Mein Kind soll eine Spritze bekommen. Vielleicht ist da Kinski nicht hilfreich.
Was hast du denn?
Angst.
Aha.
Muss du nicht.
Hab ich aber.
Na, gut, ich behaupte mal Frühling Afrika, Winter Indien. Kann so falsch nicht sein.
Eine Zehn-Minuten-Beratung kostet nichts. Ab elf Minuten wirds teuer. Wir brauchen länger: vielleicht fahren wir hierhin, vielleicht dahin, mal sehen.
Die Frau, die tatsächlich aussieht wie Frau Puppendoktor Pille, rät von fast allem ab. Vom Spritzen und sogar auch ein bisschen vom Reisen, zumindest dahin, wo es die entsprechenden Krankheiten gibt. Im Grunde rät sie uns, uns nicht zu infizieren. Da hat sie natürlich Recht.
Hepatitis A müsste aber sein und das erledigen wir auch gleich.
Wer will als erstes?
Erst will das Kind. Dann nicht und dann gar nicht mehr. Also gar nicht gar nicht.
Das verrückte an ihr ist, dass sie entweder total mutig ist oder total ängstlich. Da gibt es nichts dazwischen. Sie ist kein Dimmer. Sie ist ein Kippschalter. Und eine Spritze will sie nicht, nicht nach Indien und nicht nach Afrika. Neinnein. Sie ballt sich auf meinem Schoß zusammen und dann kriecht sie bei der Ärztin unter den Tisch.
Von anderen Grausamkeiten mal abgesehen: von Spielplätzen nach Hause gehen, föhnen, sie zwingen im Bus zu sitzen, einen Fahrradhelm aufsetzen, die Banane falsch schneiden, das Plüschtier in die Waschmaschine stecken.
Am Ende hat sie eine Spritze. Ich habe geschwitzt.
Den ganzen Heimweg reden wir darüber. Was ist Angst? Was will sie?
Aber nicht nur die Angst hat ihr geraten, so ein Theater zu veranstalten und unter den Tisch zu kriechen, auch Kindergartenfreundin Emily habe gesagt, dass Spritzen weh tun.
Wir spielen: Auf wen hörst du?
Wenn es brennt
a) Auf die Feuerwehr.
b) Auf die Nachbarn.
c) Auf Mama.
d) Auf Emily.
Bei Zahnschmerzen
a) Auf Oma
b) Auf Mama
c) Auf den Hund
d) Auf Emily
Überhaupt stellen wir fest, dass sie sich wie der Hund verhalten hat, der auch bei Angst immer unter den Tisch kriecht. Er denkt, dass er dort vor Gewitter und Feuerwerk sicher ist.
Ich erzähle dem Kind, wie ich den Hund beim Tierarzt auch immer so festhalten muss. Davon wird die doofe Erfahrung im Tropeninstitut besser. Ich bin ein bisschen ihre Vernunft, bis sie es selber hinbekommt. Bald haben wir beide das Theater vergessen. Manchmal sagen wir: „Kriech doch unter den Tisch!“, wenn einer Angst hat.
Der nächsten Impftermin wird beim Kinderarzt erledigt, und das Kind bekommt viel Lob dafür, wie tapfer es ist.
Sie ist total entspannt und danach stolz.
Darüber bin ich immer wieder verblüfft: Wie ein Kind eines Tages auf einmal seine Haare selber wäscht, als wäre nichts dabei.
In meiner Familie wird dann von jeher gemurmelt: „Vielleicht wird ja doch noch ein Mensch draus.“