Erstens:
Schwarzwald, Schnee, gefrorene Zapfen, schreiende Schlittenhunde, sie wollen los.
Es ist die erste Reise, wir wollen los.
In Todtmoos im Schwarzwald ist die Schlittenhund-Weltmeisterschaft und das ist Anlass genug, alles stehen und liegen zu lassen, eine Lesung und einen Auftrag abzusagen. So wird es wohl bleiben, wenn meine großen Weltreisepläne Realität werden sollen. Nicht: lebe deine Träume, sondern: realisiere deine Pläne. Und dafür muss ich mir Freiräume frei räumen, sonst wären es ja keine Freiräume. Das kommt nicht von Raum, sondern von räumen.
Nein ist das neue Ja.
Ich war als Kind einmal bei einem Schlittenhundrennen, und das ungeduldige Geschrei der Hunde habe ich nie wieder vergessen. Einmal träumte ich davon, wie die ganze Klasse vor die Schule gespannt war und in hoher Erregung bellte, weil die Ferien begannen.
Nach Todtmoos könnten wir sehr lange mit dem Zug fahren. Oder mit Fliegen und viermal umsteigen mit Bahn und Bus in der Hälfte der Zeit dort sein. Eine physikalische Rechnung über Weg und Zeit berücksichtigt Stress und Zugverspätungen nicht. Ich entscheide aus dem Bauch heraus fürs Fliegen. Hinter mir hüpft vor Freude ein Kind auf dem Sofa und ruft: Fliegen, Fliegen, Fliegen wir kommen, als wäre Fliegen selbst der Ort, an den wir reisen.
Wir müssen um vier aufstehen, durch die Stadt zum unfertigen Flughafen.
Für uns sind wir die Größten.
Beim Billigflieger geht’s zu wie auf einem interessanten, lebhaften Basar. Flug nach Basel, ruft eine Frau. Ich hebe die Hand, werde vorgelassen. Das dumme an Handgepäck ist, dass man es immer so voll packt, wie es nur geht, und wenn dann ein Laptop einzeln gescannt werden muss, während ein Kind weint, dass der Teddy nicht gescannt werden soll, dann rinnt der Schweiß schneller und riecht auch anders oder sind das die anderen um mich herum?
Warum wollte ich verreisen?
Und das will ich jetzt häufiger machen?
Warum nochmal?
Weil ich zu Hause ein Mangel an etwas gefühlt habe. Hier ist aber gerade zu viel an was.
Wenn ich das Unwohlwollen in mir mitnehme, nehme ich es überall hin mit.
Ich werde gescannt und da blinkt es: Unwohlsein in der Person drin.
Neben dem Scanner steht eine Plexiglasbox für die Gegenstände, die auf der international verständlichen Sicherheitsbelehrung durchgestrichen sind. Bomben, nein. Feuerzeuge, nein. Messer, nein. Ich werfe das Unwohlsein dort hinein. Zwischen halb ausgetrunkenen Wasserflaschen und tickenden Bomben liegen viele zurück gelassene Gefühle, die die Menschen nicht mit in den Urlaub nehmen wollen. Geldsorgen, Mobbing vom eigenen Chef, Schlafstörungen durch laut streitende Nachbarn.
Der Teddy wird von Hand gescannt. „Hände hoch und Beine breit“, sagt die Frau in der Sicherheitsschleuse. Kind lacht. Teddy macht die Beine breit.
Bestimmt werde Dinge in Teddys geschmuggelt. Eigentlich ist es in seiner Abwegigkeit viel zu naheliegend.
Es folgt eine halbe Stunde, in der das Kind fragt, wo das Flugzeug ist und ob wir schon im Flugzeug sind. Als wir endlich im Flugzeug sind, fragt sie, ob wir schon fliegen.
Das Wort Herrjeh kommt mir in den Sinn.
Da ich beim Reservieren im Internet beim Platzwunsch mit Aufpreis nicht bezahlen wollte, haben wir nun keinen Fensterplatz. Ich hoffe, dass sich vielleicht jemand finden wird, der mit uns tauscht. Ich bin mir sogar ganz sicher. Ein Kind, das zum ersten mal fliegt. Wer könnte da hartherzig sein? Sie kann auch diesen Hundeblick. Neben uns sitzt eine alte Frau. Prima, alte Frauen sind die besten Menschen, außer nicht, dann sind es die schlimmsten Menschen. Bei einer alten Frau gibt es nichts dazwischen.
„Entschuldigung“, sage ich. „Könnten wir vielleicht Plätze tauschen, damit die Maus am Fenster sitzen kann? Sie ist noch nie geflogen und würde gerne raus sehen?“
Eine der lieben Omis hätte schon nach Entschuldigung gelächelt, und nach die Maus Schokolade aus der Tasche geholt und bei noch nie geflogen gütig genickt. Die Frau neben uns schaut uns an und schüttelt dann ganz langsam den Kopf. Eine Mimik hat sie dazu nicht, etwas, das uns signalisieren könnte, dass ihr das leid tue, aber sie wolle eben lieber selbst am Fenster sitzen. Oder dass ihr unser Anliege einerlei sei, weil sie Kinder eben hasse. Dazu könnte sie ja ein bisschen die Schultern zucken. Das würde ich sogar alles verstehen. Sie tut nichts dergleichen, sagt: „Das ist mein Platz.“
Ich war einmal in einem ganz leeren ICE-Abteil, in welchem keine Reservierungen angezeigt wurden, weil „Räusper, raschel, raschel“ kam es aus den Lautsprechern „aufgrund eines technischen Fehlers die Reservierungen nicht angezeigt werden könnten.“ Die Fahrgäste wurden gebeten, für Reisende mit Reservierung die Plätze freizugeben.
Als ich alles ausgebreitet hatte: Thermoskanne, Laptop, Essen; da tauchte ein alter Mann mit seiner alten Mutter auf und sie sagten, dass dies genau wo ich sitze nun mal ihr reservierter Platz sei. Sicherlich hatte ich große Augen bekommen und ein wenig mit den großen Augen im leeren Abteil hin- und hergesehen, aber sie kamen nicht auf die Idee, wo anders zu sitzen und sie hatten innerhalb ihrer Welt auch Recht. Vier Euro pro Sitzplatzreservierung mussten abgesessen werden.
Als der Zug weiterfuhr, stellten sie fest, dass sie entgegen der Fahrtrichtung saßen und anstatt sich umzusetzen, verwickelten sie den Schaffner in ein längeres Gespräch darüber, das sich in der Metaebene darum drehte, warum das Leben nicht anders war, perfekter, besser, mit angezeigter Sitzplatzreservierung und der gewünschten Fahrtrichtung. Achachach. Mich dauerten sie sehr.
Als die alte Frau im Flugzeug noch vor dem Start der Maschine einschlief, verstand mein Kind die Welt nicht mehr.
Ich will diese Weltreise nicht, damit sie die Welt versteht, sondern damit sie die Welt kennenlernt.
Verstehen kann man die nicht.
Notizen
In Berlin fast frühlingshaft. In Basel kein Schnee. Erst der letzte Bus der sich in die Berge hochschraubt, bringt uns in den Schnee. Über allen vorderen Sitzen sind Aufkleber, dass die Plätze für alte Mensche freizuhalten sind. Es sind auch nur Alte im Bus. Sie freuen sich, wie das Kind sich über den Schnee freut. Sie ist ein großer Winterfan. Dann schläft sie ein. Als ich sie wecken muss, kann sie kaum stehen, hat aber Kraft mich zu beschimpfen. Dann sieht sie denn Schnee, reinweiß, zu kindshohen Bergen am Bürgersteigrand zusammen geschoben. Mama, darf ich, darf ich? Ein Jauchzen und Rutschen beginnt.
Rucksack ins Zimmer. Sofort los. Sonnenschein. Noch weiter hoch in die Berge. Kind hat zwei Spielfiguren bei sich: fingerkleinen Igel, handgroßen Dogge, die mal quietschen konnte, aber nicht mehr quietscht. Während ich Tickets kaufe, buddelt Kind in den harschen Schneehaufen hinter den Glühweinbuden.
Mama, darf ich, darf ich.
Bis der Bus kommt.
Sie buddelt einen Höhle für klein Igel und groß Hund. Ich denke, sie verliert den Igel.
Pass gut auf den Igel auf, blablabla.
Mama, da sind Plüschhuskys. Ohhhhh. Wie süß. Der da. Ohhhhh. Ja? Kaufst du einen?
Na, klar.
Das muss schon sein. So ein Andenken. Kind strahlt. Husky schielt.
Wo ist der Igel?
Hier!
Wo ist die Dogge?
Weg!
Da kommt der Bus.
Tränen. Die Dogge, die Dogge, die Dogge.
Hab ich dir nicht gesagt?
Auf den Igel, hast du gesagt.
Wir lassen einen Bus fahren und suchen im Schnee die Dogge. Ich schneide mir die Hände am harten Schnee. Wir graben mit Stöcken, treten gegen die Schneemassen, bis sie einstürzen. Den nächsten Bus nehmen wir. Der Husky tröstet über den Verlust der Dogge hinweg.
Im Frühling wird sie jemand finden.
Kommen wir im Frühling wieder, Mama?
Ich erinnere mich an die aufgeregten Hunde, laufgeil, geschunden, einige in unglaublichem Dreck, die wollen das so, sagt man uns.
Der Sprecher, der immer wieder erklärt, warum keine Huskys mitlaufen. Sie gewinnen eben nicht. Fell zu dick. Er wird aber auch nicht müde zu erklären, dass die neuen Züchtungen aus verschiedenen laufgeilen Hunden mit kurzem Fell nicht frieren, sondern nur zittern. Sie sind auch nicht dünn. Sie sind eben so. Und die haben keinen Stress. Die wollen laufen.
Einige Hunde sind meistens in diesen Anhängern. Es ist von außen schwer zu sagen, wie viele Hunde sich in so einem Hänger befinden. Wir haben ein paar Mal zugesehen, wie welche aus den Verschlägen geholt wurden. Wie sie draußen gleich wieder an angepflockte Leinen kommen, wie sie von dort zum Schlitten gebracht werden, dort angebunden werden. Sie könne sich wenig bewegen, bis sie sich dann endlich bewegen dürfen nd natürlich dann auch wollen. Klar. Sie sind wie voll gespannte Katapulte. In der Nähe des Startes herrscht ein Schrei, Kläff, Fiep.
Ja, sie wollen laufen, aber wenn es sie nicht gäbe, weil sie niemand gezüchtet hätte, würden sie nicht laufen wollen. Arbeitstiere, Sporttiere.
Die Teams sind sehr unterschiedlich. Sehr gut ausgestattete Schweden, super Schlitten, schöne Hunde, alle im Team Trikots. Aber es gibt auch Familien mit beschmierter Militärkleidung, Hunden mit Verbänden hier und da und einem Anhänger, aus dem die Scheiße tropft. Wir sprechen länger mit einer Frau aus der zweiten Kategorie. Als ich mit Kind auftauche, beginnt sie anders mit den Hunden zu sprechen. Ja, der ist gaaaanz alt, sagt sie zu einem buckligen, dürren Vertreter, der Scheißeschnee isst.
Wie alt?
Sieben.
Das findet das Kind nicht alt. Unser Hund ist zehn und sieht nicht so aus. Er hat aber auch nicht so viel geackert in seinem Leben.
Das Springen der Hunde an den Startplätzen, das Verheddern, wie sie am Geschirr getragen werden wie Stücke. Die Besucherhunde an der Strecke, die sich das alles ansehen. Die Warnung, Privathunde nicht zu nah an die Strecke zu lassen, weil sie zerfetzt werden würden von dem Rudel Schlittenhunde. Der Schnee wäre nicht mehr weiß, das Fest verdorben, die Strecke besudelt, der Sport verrufen, der Sprecher arbeitslos, weil er nicht genug gewarnt hätte.
Überall Müllsäcke mit Hundekot, Schleifspuren von gerissenen Müllsäcken mit Hundekot. Braun auf Weiß.
Die Hunde, die an uns vorbeihecheln, diese Schreie, das Zischen der Kufen, diese Tiefe des Waldes, in der die Schlitten erschwinden.
Ich erinnere mich an unglaublich viel Schnee, Hänge, die man sich einfach so runterstürzen konnte und unten fiel man weich. Ein von innen und außen nasses Kind.
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